NGO-Bündnis kritisiert Position der Bundesregierung
Berlin, 06.12.2022. Die Europäische Union will Unternehmen zum Schutz von Menschenrechten und der Umwelt in ihren Wertschöpfungsketten verpflichten. Offen ist jedoch, wie wirksam das sogenannte EU-Lieferkettengesetz ausfällt. Der zuständige EU-Ministerrat hat sich vergangenen Donnerstag in Brüssel auf eine Position geeinigt, die zwar über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgeht, aber dennoch zahlreiche Schlupflöcher enthält. Mehrere EU-Regierungen, darunter Deutschland, versuchen weiterhin, das Vorhaben abzuschwächen. Dagegen protestierten heute in Berlin Aktivist*innen der „Initiative Lieferkettengesetz“ und überreichten eine an Bundeskanzler Olaf Scholz gerichtete Petition mit 90.248 Unterschriften.
„Ob im Koalitionsvertrag oder auf dem SPD-Debattenkonvent: Immer wieder bekennt sich die SPD zu einem wirksamen EU-Lieferkettengesetz. Kanzler Scholz muss auf europäischem Parkett zeigen, dass das keine Lippenbekenntnisse sind! Das fordern nicht nur 130 Organisationen, sondern auch 90.000 Menschen, die unsere Petition unterschrieben haben“, kommentiert Michelle Trimborn, Sprecherin der Initiative Lieferkettengesetz.
„Wirksam ist ein EU-Lieferkettengesetz nur, wenn Betroffene von Menschenrechtsverletzungen eine realistische Chance erhalten, in der EU Schadensersatz von den verantwortlichen Unternehmen einzuklagen. Der verheerende Dammbruch in Brumadinho und die Brände in asiatischen Textilfabriken haben gezeigt: Zertifikate und Branchenstandards sind keine Garanten für Menschenrechte und dürfen Unternehmen nicht von der Haftung befreien. Die Bundesregierung muss ihre Forderungen nach solchen Schlupflöchern zurückziehen“, betont Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von Misereor.
„In der Textilindustrie entstehen 85 Prozent der Treibhausgase und Umweltschäden bereits zu Beginn der Produktion. Ein wirksames Lieferkettengesetz muss daher bereits ab der ersten Faser greifen und alle Produktionsschritte umfassen. Bundeskanzler Scholz muss mit den Koalitionspartnern die Sanktionierbarkeit der Klima-Sorgfaltspflichten entlang der gesamten Lieferketten sicherstellen und so einen zentralen Hebel im Kampf gegen die Klimakrise und Naturzerstörung aufstellen”, fordert Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace Deutschland.
„Das EU-Lieferkettengesetz muss alle Unternehmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zum Schutz von Menschenrechten verpflichten. Es muss beispielsweise greifen, wenn Lieferungen von Flugbenzin nach Myanmar zu Kriegsverbrechen beitragen können. Es darf keine Ausnahmen für wichtige Geschäftsfelder wie Waffenexporte oder Finanzinvestitionen geben. Nur durch eine umfassende Regelung kann die Europäische Union weltweit Standards setzen“, unterstreicht Markus Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland.
Die Bundesregierung hat am vergangenen Donnerstag auf der Sitzung des zuständigen EU-Ministerrats „Wettbewerbsfähigkeit“ in Brüssel für den gemeinsamen Entwurf gestimmt. Dieser sieht unter anderem vor, dass europäische Unternehmen auch zivilrechtlich für Schäden haften sollen, die sie durch Missachtung menschenrechtlicher Sorgfaltspflichten in ihrer Lieferkette verursacht haben. Die volle Sorgfaltspflicht ist nicht auf das erste Glied der Lieferkette begrenzt. Neben Menschenrechten sollen Unternehmen auch Umweltstandards achten und Klimapläne erstellen. Damit würde das EU-Lieferkettengesetz deutlich über das deutsche Lieferkettengesetz hinausgehen, das am 1. Januar 2023 in Kraft tritt.
Die Bundesregierung hatte sich im Vorfeld dafür eingesetzt, dass Waffenexporte und Finanzinvestitionen von dem Gesetz ausgenommen werden und Unternehmen, die ihre Klimapläne nicht umsetzen, nicht sanktioniert werden. Diese Positionen finden sich nun auch im EU-Ratsbeschluss wieder. Nicht durchsetzen konnte sich die Bundesregierung hingegen mit dem Versuch, eine sogenannte „Safe-Harbour-Klausel“ in dem Beschlusstext unterzubringen – einer Art Freifahrtschein für Unternehmen, die bestimmte Zertifizierungen verwenden oder sich an Branchenstandards beteiligen. Diese sollten Unternehmen nach Vorstellung der Bundesregierung pauschal von einer möglichen Wiedergutmachung von Schäden befreien, die sie fahrlässig verursacht haben. Dies hatte zu starker Kritik seitens der Zivilgesellschaft geführt. Dennoch hält die Bundesregierung auf Druck der FDP an dieser Forderung fest.
Das EU-Parlament hat angekündigt, sich im kommenden Frühjahr zu dem EU-Lieferkettengesetz zu positionieren. Anschließend beginnen die als „Trilog“ bezeichneten Verhandlungen zwischen dem EU-Parlament, der EU-Kommission sowie dem Rat. Misereor, Greenpeace Deutschland und die deutsche Sektion von Amnesty International gehören zu den mehr als 130 Organisationen, die sich zur Initiative Lieferkettengesetz zusammengeschlossen haben.
Foto: Initiative Lieferkettengesetz / Valère Schramm